Gabriele Uelsberg: Grünes Licht
in: Dorothee Joachim, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Alte Post, Mülheim/Ruhr 2001

Versucht man, die Bilder von Dorothee Joachim zu interpretieren, sucht man oftmals Beistand in der Aufzählung der langwierigen Arbeitsschritte, in der Charakterisierung der eigenständigen Maltechniken, in der Beschreibung der Konsistenz von Farben und Pigmenten und dem Verweis auf die Entstehungsdauer, die allen diesen Werken eigen ist. Offenbar geht die erste Auseinandersetzung in der Betrachtung der Arbeiten von Dorothee Joachim mit dem verständlichen Wunsch einher, das Unfassliche und Unbeschreibliche dieser Bilder mit den rein materiellen und faktischen Gegebenheiten in Verbindung zu setzen, die uns die Vertrautheit und Bekanntheit mit dem, was wir sehen, wieder herstellen. Dennoch gelingt es nicht, Dorothee Joachims Bilder mit einer wortdefinierten Zuordnung zu fassen, und wir müssen in der Beschreibung akzeptieren, dass die Werke uns immer wieder entgleiten. Im Bewusstsein dieser Problematik wage ich den Versuch einer Annäherung.

Dazu dient mir folgende These:
Dorothee Joachim ist keine Malerin, sondern eine Plastikerin.

Die Künstlerin schafft im eigentlichen Sinne keine Gemälde, sondern Farbraumplastiken, die sich – wie Körper – im Raum verhalten und unter Maßgabe des Betrachterstandpunktes ihre Präsenz und Anmutung ständig wandeln. Der Aspekt der Körperhaftigkeit, die ihren Arbeiten innewohnt, resultiert nicht zuletzt aus jener besonderen Arbeitstechnik, der sie ihre Werke unterwirft und aus der sie sich gerade auch als Malerin mit eigenem stilistisch-handschriftlichem Duktus zurückzieht, somit den Prozess der Bildentstehung quasi neutralisiert und diesen gleichsam von außen leitet und dirigiert. Im Fortgang des Entstehungsprozesses der Bilder baut sich nun jener Grad von Plastizität und Körperlichkeit auf, der den Werken unter Maßgabe einer fast völlig fehlenden Dreidimensionalität – nur der Bildkörper aus Keilrahmen und Leinwand ist konkret – eigen ist. Das „Volumen“ der Bilder, mit dem sie den Raum erfüllen, entwickelt sich in mikroskopischen Dimensionen und speist sich aus der raumbildenden Kraft von Farbe, die für den Betrachter wahrnehmbar, aber rational zunächst nicht nachvollziehbar ist.

Wie erreicht die Künstlerin ein solch intensives optisches Volumen? Dorothee Joachims Bilder sind aus bisweilen hundert oder mehr Farbschichten aufgebaut, die die Künstlerin auf den Nesselgrund aufgebracht hat. Die Materialität der Farbe, die zuletzt den Bildgrund bedeckt, nimmt jedoch wiederum kaum Raum ein, denn aus der Summe dieser vielen hauchdünnen Lasurschichten entsteht keine dicke oder nur geschlossene Farbhaut, sondern durch die immer wieder erneute Überlagerung feinster Partikel und Pigmente entsteht ein mikroskopisch feines Farbrelief, das nur auf den ersten Blick und aus der detailnivellierenden Sehdistanz als monochrom wahrgenommen wird. Betrachten wir die Arbeiten von Dorothee Joachim aus der Nähe, lassen sich unendlich viele Grate und Strukturen an der Oberfläche erkennen, an der die in Wasser ganz dünnflüssig gelöste Acrylemulsion sich unterschiedlich verdichtet und konzentriert hat, während die Künstlerin diese aufgetragen hat. Durch diesen „Ablagerungsprozess“ entsteht für jedes einzelne Bild eine Farbstruktur, die mit der Oberflächenstruktur so verwoben ist, dass sich Farbklänge einstellen. Die unterschiedlichen Farbigkeiten, die die Künstlerin so erreicht, sind unendlich in ihrer Vielzahl, wenngleich nur die Grundfarben Rot, Gelb und Blau zur Anwendung gelangen. Die Abfolge der Schichten, die Intensität der Mischungen und der Ablauf des Prozesses ist jedesmal anders und bringt im Ergebnis eine farbige Tonalität, die jedes einzelne Bild ganz individuell auszeichnet. Die Strukturen, an denen sich die Farbpigmente verdichten, sind so über die Bildoberfläche verteilt, dass sie jedweder kompositionellen oder auch seriellen Struktur entgegenwirken – sie sind in diesem Kontext informell -, was die Konzentrierung auf den reinen Farbraum erst möglich macht. Die Künstlerin erreicht dies nicht zuletzt dadurch, dass sie während des Malprozesses die Bilder immer wieder dreht und auf den Kopf stellt, so dass sich keine Regelmäßigkeiten in der Struktur einstellen können, die den Blick von der eigentlichen malerischen Thematik ablenken würden.

Dorothee Joachim gelingt es in der Verfolgung dieses Ansatzes, die plastische Qualität von Licht und die körperliche Wirksamkeit von Farbe im Raum erfahrbar zu machen und in einen Bezug zu den Betrachtern zu setzen. Das strukturelle „all-over“ der Oberflächen, mit dem sich jene mikroskopische Binnenstruktur dieser Arbeiten am ehesten vergleichen ließe, garantiert, dass die malerische Wirkung der Farbigkeit eines jeden einzelnen Werkes in unendlich vielen Facetten transparent wird und sich je nach Verlauf des Lichteinfalls und je nach Betrachterstandpunkt erneut in Hunderte von Farbschichten aufzulösen scheint, aus denen die Bilder plastisch aufgebaut sind. Die Vielzahl der Farbigkeiten, die diesen auf den ersten Blick so scheinbar unbunten und minimalistisch reduzierten Bildwerken innewohnt, scheint dem gesamten Spektrum der Farbigkeit in der Natur entnommen zu sein und gewinnt so im Laufe der Betrachtung eine körperliche Qualität von Licht, die im Gegensatz steht zum ersten Eindruck dieser Werke. Diese besondere Wirksamkeit von Farbe und Licht im Raum erreicht Dorothee Joachim sowohl bei ihren sehr hellen, scheinbar weißen Arbeiten wie auch in den jüngsten Werkserien, in denen die Farbigkeit – so die des Grün – zu stärkerer Dominanz gelangt und die im Vergleich zu den reduzierten hellen Werken der Jahre zuvor fast „starkfarbig“ wirken.

Die Bilder von Dorothee Joachim verlangen vom Betrachter Zeit und Muße in der Betrachtung. Ein „Passant“, der diesen Bildern nur mit einem Seitenblick Aufmerksamkeit schenkt, könnte sich mit dem ersten Farbeindruck begnügen und die Multiplizität der Ansichten versäumen. Ein meditativ vor den Bildern verweilender Rezipient wiederum könnte vom Zentrum der Farbigkeit aufgesogen in der Betrachtung versinken, ohne jene Vielschichtigkeit zu erleben, die erst durch den Betrachterstandortwechsel und ein Sich-im-Raum-Bewegen möglich ist. Die Bilder von Dorothee Joachim verlangen in diesem Kontext Flexibilität und die Fähigkeit zum Positionswechsel. Dies verstärkt die Künstlerin gerade auch in der Konzipierung von Bildserien, die sie einander zugesellt und in deren Zusammenklang die unterschiedlichen Farbigkeiten in gleicher Tonalität und Klanglichkeit deutlich werden und die die Dialogfähigkeit dieser Arbeiten untereinander und mit den Betrachtern belegen.

Diese besondere Form von Kommunikation, derer die Arbeiten von Dorothee Joachim fähig sind und die sie im Zusammenklang der Bilder untereinander und im ständigen Wechselspiel zum Raum und zum Betrachterstandort fordern, hat die Künstlerin bewusst in einer Ausstellungssituation radikalisiert, nämlich für die Ausstellung „InSicht“ im Gothaer Kunstforum in Köln, 1999. In dieser Ausstellung wurde extra für die Bilder in Zusammenarbeit mit einem Architekten ein weißer Kubus geschaffen, der einen Raum im Raum konstruierte und so für die Bildwerke und die Betrachter eine Situation ermöglichte, in der jene besondere Form von Dialog zur Perfektion geführt wurde. In diesem weißen Kubus, dessen Decke mit einem transparenten Gazestoff abgehangen war und in dem installierte Lichtquellen ein sanftes, aber undifferenziertes Licht schufen, erlebten die Besucher der Ausstellung Dorothee Joachims Bilder in einer besonderen Form von visuellem Klangraum. In dieser begrenzten Raumsituation erlebten die Besucher die Entgrenzung der Farbe, der Klänge und ihrer eigenen Wahrnehmung. Eine besondere Situation, die Dorothee Joachim bewusst für diese Ausstellungssituation im Gothaer Kunstforum konzipiert hat und die im Kontext ihrer Arbeit auch Fragen aufwerfen sollte über Ausstellungskonzeptionen, Räume und Präsentationsformen, mit denen Künstler, Museen und Ausstellungshäuser alltäglich umzugehen haben. Diese besondere, fast sakrale Form der Präsentation ist jedoch nur eine mögliche Präsentation für die Arbeiten von Dorothee Joachim. Im weißen Kubus vom Gothaer Kunstforum waren die multiplen Bezüge zwischen den Bildern, ihrer Farbigkeit, der Plastizität der visuellen Klänge und der Wahrnehmungsfähigkeit der Betrachter konzentriert und in einen idealen Kontext gebracht. In den anderen Präsentationen, so wie in der Ausstellungskonzeption für das Kunstmuseum in der Alten Post in Mülheim an der Ruhr, erleben die Bilder über den Zeitraum der Ausstellung die Veränderungen des Tages, der Wochen und der Monate im unterschiedlichen Klang von Licht, Sonne, Dämmerung und Dunkelheit mit den wechselnden Betrachterstandorten im Raum und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Wirkungsklängen, die die Farben in diesen Bildern anzustimmen in der Lage sind. Die Summe der unterschiedlichen Klangmodalitäten aller Bilder wird dadurch in keinem Falle geringer, sondern eher noch größer, wenngleich dies nie in einem Moment simultan, sondern in einer Summe von vielen Momenten erlebbar wird.

In den Arbeiten von Dorothee Joachim erleben wir Malerei, ohne an Malerei gebunden zu werden. Ihre visuellen Farbplastiken entwickeln im Raum und im ständigen Wechseldialog mit den Betrachtern eine Individualität und körperliche Präsenz, die sie als raumbildende Objekte fassbar machen. Dass der Objektcharakter im Werk von Dorothee Joachim durchaus anzusprechen ist, bestätigen die Seitenflächen ihrer Werke, die sie niemals verbrämt und deren gewachsene Struktur ihr im Kontext der Arbeiten wichtig ist. Hier an diesen Seitenteilen ihrer Arbeiten erkennen wir die Spuren der Prozesse, erfahren die Vielfältigkeit der Farbigkeiten und erleben die Faktizität der Malerei ohne Kompromiss.

Jedes ihrer Bildwerke ist ein idividueller Farbkörper mit einem Grad an Unverwechselbarkeit, der ihn in ein besonderes Verhältnis zu den anderen Bildern wie zu den Betrachtern setzt. Dorothee Joachim verfolgt ihre künstlerische Arbeit mit extremer Konsequenz. Ihrer gestalterischen Zielsetzung ist jede Form des Kaschierens, Verdeckens oder Illusionierens absolut fremd. Ihre farbplastischen Bilder sind offen und in der Betrachtung immer nachvollziehbar. Damit sind diese Arbeiten von einem Grad der Wahrhaftigkeit geprägt, der ihr gesamtes Werk maßgeblich auszeichnet.

Es sind Bilder, die alles aussprechen, was in ihnen steckt und was sie ausmacht - man muss nur zuhören. 

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