Das, was ich im Kopf habe, ist eine Vorstellung, die vielleicht gar nicht soviel mit Malerei zu tun hat

Aus einem Gespräch zwischen Dorothee Joachim (DJ) und Sabine Müller (SM), das am 9. Juni 2000 in Köln stattfand.
in: Die Farbe hat mich. Positionen zur nicht-gegenständlichen Malerei, Ausstellungskatalog, Hrsg. Michael Fehr, Klartext Verlag, Essen 2000

SM: Du hast in deiner Arbeit der letzten Jahre den Anteil der Farbpigmente im Malmittel immer stärker zurückgenommen.

DJ: Das hat 1995 nach meiner Ausstellung in der Kölner Artothek angefangen. Da hatte ich schon ein sehr blasses, aber noch eindeutig blaues Bild gezeigt. Danach ging es mir dann wirklich darum, eine Farbigkeit zu erreichen, die nicht eindeutig ist. Ich habe also die Malflüssigkeit noch mehr verdünnt, und ich habe die Farbe neutralisiert. Das heißt, wenn ich etwas will, das in Richtung Gelb geht, arbeite ich sehr stark mit Rot und Blau, um die Entscheidung für das Gelb in einen ganz prekären Bereich hinein zu bringen: dass es eben so gerade noch Gelb ist.

SM: Thomas von Taschitzki spricht davon, dass sich Farbe „an der Schwelle ihres Erscheinens“ zeigt.1

DJ: Das, was ich im Kopf habe, wenn ich anfange, ist eine Vorstellung, die vielleicht gar nicht soviel mit Farbe zu tun hat, sondern mehr mit Klima, oder vielleicht mit irgend etwas, das gar nichts mit Kunst zu tun hat.

SM: Auffällig bei deinen beiden Bildern in der Ausstellung „Farbzeit“ sind diese eigenartigen, an Krakelee erinnernden Strukturen.

DJ: Diese Strukturen entstehen von selbst, durch das Anwachsen der vielen Farbschichten übereinander. Ein Biologe hat hier im Atelier mal entdeckt, dass das „fraktale“ Strukturen sind. Es geht also um Wachstumsprozesse, wie sie auch in der Natur stattfinden. Bei den Oberhausener Bildern wird dies besonders deutlich: da sind es weit über hundert Schichten; die sind zwar extrem dünn, aber die wenigen Pigmentpartikel darin bilden beim Trocknen nach und nach winzige Grate. Die Farbe macht also ihr eigenes Muster. Diese Muster haben eine ähnliche Basisstruktur, aber wenn man Bilder aus verschiedenen Jahren nebeneinander hängt, so wie ich das zum Beispiel letztes Jahr in der Ausstellung im Gothaer Kunstforum getan habe, kann man sehen, dass sie sich gerade in ihrem Oberflächencharakter stark voneinander unterscheiden.

SM: Du verwendest nur Querformate. Wenn du dann zwei solcher Querformate direkt nebeneinander hängst wie bei deinen Doppelbildern2, kommst du zu einer geradezu panoramaartigen Ausdehnung in der Horizontalen.

DJ: Meine ersten ungegenständlichen Bilder (1983) hatten den Titel „Intérieur – Extérieur“. Das waren auch schon extreme Querformate, aber aus mehreren Hochformaten zusammengesetzt. Davor hatte ich abwechselnd Stadtlandschaften im Breitwandformat und hochformatige Interieurs oder Stilleben gemalt. Bis ich diese beiden Aspekte schließlich, in einer Art Gleichzeitigkeit, zusammenbringen konnte. Diese Ambivalenz von Innen und Außen, von Intimität und, sagen wir: Öffentlichkeit, war mir schon immer wichtig.

SM: Die Polarität von Innen/Außen wird in deinen Ovalbildern (1993-94) in eine Figur/Grund-Beziehung übertragen.3

DJ: Wobei die Figur, also das Oval, hier sehr im Mittelpunkt steht und das Außen ganz an den Rand gedrängt wird. Deswegen ist mir die kurze Phase der Streifenbilder (1994) wichtig, in denen die Farbe an den Rand gerät und das „Nichtfarbige“ ins Zentrum.

SM: Dieses dialogische Prinzip splittet sich bei den Doppelbildern in zwei einzelne, aber zusammengehörende Tafeln auf und weitet sich schließlich aus in den Raum. Das heißt, diese extreme Zurückhaltung in der Farbigkeit, die deine heutigen Bilder charakterisiert, führt dazu, die Korrespondenzen zwischen dem Bild und allem anderen außerhalb des Bildes zu fördern. Das Bild dominiert den Raum ja nicht. Es hat zwar eine sehr starke Prägnanz – es gibt nichts Diffuses oder Wolkiges -, aber es fügt sich zunächst einmal relativ unauffällig in seine Umgebung ein. Trotzdem passiert etwas. Der Raum verändert sich, und zwar durch dieses zurückhaltende Bild. Das Bild gibt dem Raum ein Maß und eine ästhetische Reibungsfläche, und das steigert wiederum die Wahrnehmungsfähigkeit für das Bild.

DJ: Und das wirkt wieder zurück in den Raum. Das heißt, die Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt erweitert sich, für die gesamte Wirklichkeit.

SM: Deine Bilder grenzen sich aber nicht nur sehr wenig vom Raum ab, sondern auch untereinander. In deiner Aachener Ausstellung Anfang dieses Jahres hast du die Bilder sogar in mehreren Reihen übereinander gehängt. Auch bei den beiden Bildern in Oberhausen fällt auf, dass sie sehr dicht zusammen hängen.

DJ: Diese Bilder habe ich bewusst als einzelne Bilder gemacht. Sie unterscheiden sich viel stärker voneinander als die einzelnen Tafeln der Doppelbilder. Aber sie haben trotzdem sehr viel miteinander zu tun. Sie sind in einem gemeinsamen Kontext entstanden, gehören sozusagen derselben Generation an. Es gibt auch Gruppen von kleinformatigen Einzelbildern, die als Vierergruppe zusammenbleiben müssen.

SM: Das heißt, die Arbeitssituation ist immer dialogisch, auch die Einzelbilder entwickeln sich im gegenseitigen Austausch?

DJ: Die Eigenständigkeit des Bildes behauptet sich eben vielfach gerade im Dialog mit den anderen. Es geht ja um eine lange Zeit, die die Bilder während ihres Entstehens miteinander verbringen. Und während der langen Dauer dieses Prozesses kommt irgendwann der Punkt, an dem eine gewisse Dichte erreicht ist, an dem das einzelne Bild seinen ganz spezifischen Charakter herausbildet: an dem sich etwas Eigenes zeigt. Im Verlauf der immer wieder aufeinanderfolgenden Malhandlungen, der immer wieder je nach dem momentanen Zustand des Bildes neu zu entscheidenden Farbzugaben, wird auf dem Bild ja nicht nur Farbmaterie abgelagert, sondern das Bild wird dabei auch mit Energie aufgeladen. Dieser längere Zeitraum ist notwendig, um eine bestimmte Intensität zu erreichen. Eine Intensität, die aber eine große Vieldeutigkeit hat. Das ist eben die Gratwanderung. Und das ist die Herausforderung. Es geht mir um Komplexität. Dass das Bild nicht Ausdruck einer momentanen Situation ist, sondern dass die Ambivalenz unterschiedlicher Erfahrungen und Erlebnisebenen darin aufgespeichert ist. Und dass es trotzdem seine spezifische, seine ganz eigene Identität hat.

1 Thomas von Taschitzki, An der Grenze zur Sichtbarkeit, in: InSicht. Dorothee Joachim / Wolfgang Lüttgens, Ausstellungskatalog, Gothaer Kunstforum, Köln 1999, S. 4
2 Vgl. Dorothee Joachim, Ausstellungskatalog, Verein für aktuelle Kunst/Ruhrgebiet e.V., Oberhausen 1996
3 Vgl. Dorothee Joachim, Ausstellungskatalog, Galerie Dorit Jacobs, Köln 1994

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